Oshowski Andreas Wahrheit ist brüchig oder sie ist nicht!
Autor Oshowski tastet sich an das Geheimnis der fragilen Wahrheit heran.
Sagen wir mal, es war in einem supervisorischen Gespräch der vergangenen Woche, in dem die Frage auftrat: Was ist Lüge und was ist Wahrheit? Der Theologe hat sofort eine Formel parat: Lügen kann man nur in völliger Freiheit und in vollem Bewusstsein! Aber wer BITTE ist völlig frei und in vollem Bewusstsein??? Und was ist dann Wahrheit?
Ich bin der Weg, die Wahrheit und das LebenDie Bibel (Johannes-Evangelium, 14,6)
soll ein gekreuzigter Gott einmal gesagt haben. Der Pfarrer, dessen Foto bei mir im Büro hängt, hat einmal gesagt: „Wenn jemand zu laut Wahrheit ruft, dann weiß ich nur eines: sie ist es nicht!“ Das könnte ja passen!? Ein Gott, der von sich sagt, ich bin die Wahrheit, ist theologisch gesprochen per se UNBEGREIFLICH. Also ist die Wahrheit es auch? - Ein 16-jähriger Jugendfußballer hat einmal zu seinem Trainer gesagt: „Du magst diese Schwarz-Weiß-Malerei nicht, oder?“ Welche Zuneigung muss wohl zwischen Jugendlichen und Trainer bestanden haben, wenn zwischen den beiden solche Fragen möglich waren? Wahrheit könnte also auch immer eine gefühlte (= zum Gefühl fähige) Wahrheit sein! Und noch ein Satz fällt mir zur - viel zu oft in Anspruch genommenen - Wahrheit ein: „Wir halten immer nur das gebrochene Stück in Händen, wenn wir Wahrheit sagen!“1 Wahrheit scheint offensichtlich auch die Suche nach einem gemeinsamen Weg zu sein, zu dem jeder seine Brüche beitragen kann. „Oder darf man es wagen, im Bild des zerbrochenen Menschen die Antwort zu sehen?“2
Der Gedanke, der mich heute bewegt
Wahrheit hat offensichtlich etwas mit Brüchen, mit Gefühl und mit einem gemeinsamen Weg zu tun! Wenn eines von den Dreien fehlt, weiß ich nur eines: sie ist es nicht! Mehr konnte ich meinem Supervisanden auch nicht sagen.
1 Kardinal Ratzinger/Papst Benedikt: Einführung in das Christentum, 1968
2 Ottmar Fuchs, Nichts ist unmöglich, Gott!, echter-verlag 2023, S.91
